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 KUNST
Zustand der Ruhe
Die große Wand
Unter Grund
Eine Bronzebüste entsteht
Metamorphosen
Aber die Kunst bleibt
Die Forderung des Raumes
Uelzener Fensterstreit

DIE GROßE WAND
 

Die große Wand.
Anna Susanne Jahn im Tagebau Schöningen

Anna Susanne Jahn war gleich beim ersten Mal, als sie an einem Feiertag und deshalb ganz allein, bei starkem, den Sand ins Gesicht peitschenden Wind, die Grube des Tagebaus erkundete, überwältigt von den Extremen, der Größe der Grube, der bizarren, fremden Landschaft, der Höhe der Wand, die sich wider Erwarten nicht düster, sondern farbenprächtig darbot. Die Eindrücke, die sie aufsaugte, lösten Empfindungen und Gedanken aus zu den Jahrmillionen der Erdgeschichte, zu den Hinterlassenschaften der Menschen, zu den Tier- und Pflanzenresten, von denen sie gehört und gelesen hatte. Vor allem, wie sollte es bei einer Malerin anders sein, nahm sie die Ästhetik des ungewöhnlichen Ortes auf, und setzte sie in ihrer Arbeit um.

Es war eine gute Entscheidung gewesen, das Arbeitsstipendium der Stiftung Nord/LB-Öffentliche an Anna Susanne Jahn zu vergeben, für Schöningen und für die Künstlerin, weil damit eine Stipendiatin ausgewählt wurde, die vom ersten Tag an von dem großen Loch in der Erde fasziniert war und daraus Impulse für ihre Arbeit gewann; eine Stipendiaten, die sich in ihrem Atelier wohl und von den Menschen herzlich aufgenommen fühlte, so dass es zu vielen Kontakten kam.

Das ist nicht immer so. Es gibt ebenso Künstler, die zum Ort ihres Arbeitsstipendiums kein rechtes Verhältnis gewinnen und sich eher im Exil fühlen. Deshalb gilt es, gerade für kleine Orte wie Schöningen, Meinersen, Bleckede oder Worpswede, um Beispiele aus Niedersachsen zu nennen, die Stipendiaten selbstverständlich zuerst nach der Qualität ihrer Arbeiten, aber auch nach ihrer Disposition zum Ort des Stipendiums auszuwählen. Wenn Stipendien und Stipendiaten zur Bekanntheit des Ortes beitragen, so ist das unter dem Sekundärnutzen der Kunst zu buchen und dann zu akzeptieren, wenn die Kunst in ihrem eigenen Wert nicht aus dem Blick gerät.

In Schöningen stimmten die Voraussetzungen. Die Bedingungen gut. Die Arbeit konnte beginnen. So entstanden in Schöningen „Die große Wand I und II“ wie eine Serie kleinerer Monotypien. Sie setzen die vorherigen Arbeiten Anna Susanne Jahns folgerichtig fort, fügen aber auch Neues hinzu. Das sind nicht nur die extremen Maße der Großen Wand, des größten von der Künstlerin geschaffenen Bildes. Neu ist auch die kräftige Farbigkeit, bevorzugte Anna Susanne Jahn bisher doch Arbeiten in einem stark begrenzen, in sich differenzierten Farbspektrum oder gar einfarbige Bilder. Neu sind auch die vermehrt zu bemerkenden spielerischen Elemente und neu ist vor allem die von der Natur selbst geschaffene „Große Wand II“.

Zunächst einmal stehen die in Schöningen entstandenen Arbeiten in der Kontinuität des bisherigen Schaffens – bis zurück in die Studienzeit. Es begann in der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Im Untergeschoss des Ateliergebäudes an der Wolfenbütteler Straße entdeckte Anna Susanne Jahn die alte Druckpresse für sich, und diese Begegnung hatte weitreichende Folgen. Die Künstlerin verschrieb sich – bis heute – der Monotypie, dem Einmaldruck. Mit Pinsel, Pinselstiel, Finger, Handfläche, mit Lappen und Bürste, mit Gegenständen, die sie als Stempel benutzt, gelegentlich auch mit ihren Füßen, bringt Anna Susanne Jahn die Ölfarbe auf die Zinkplatte der Druckpresse. Sogar die chemischen Reaktionen der Farbe auf Terpentin, Speiseöl und andere Lösungsmittel werden gestalterisch nutzbar gemacht. In der Tiefdruckpresse wird die bemalte Platte schließlich auf weichem, saugfähigem Bütten, bevorzugt auf Japanpapier, abgedruckt.

Anna Susanne Jahn entdeckte und entwickelte damit ihre Technik. Sie kommt der Intension der Künstlerin sehr entgegen, ihrer Akribie und Präzision. Die Ölfarbe wird auf eine Metallplatte, also einen harten Untergrund aufgetragen, in den sie nicht einzieht. Jeder Pinselstrich bleibt gestochen scharf, exakt so, wie er gezogen wurde. Jeder Schwung behält, gleichsam auf glattem Parkett, seine spontane Wirkung. Eigenwille und Stärke der Künstlerin finden in den technischen Möglichkeiten der Monotypie die ideale Ausdrucksform.

Die exakte Darstellung setzt das genaue Hinsehen voraus. Die insistierende Beobachtung wächst sich zum Studium des Gegenstandes aus. Das hat Folgen, die über das einzelne Werk hinausgehen. Nicht das Einzelblatt, sondern die Serie ist das adäquate Ergebnis der konzentrierten Arbeit. Ich glaube auch, dass die extremen Formate, das Hochformat der Hängerollen und das Format der Querrollen, damit etwas zu tun haben. Sie ermöglichen es mehr als das einzelne Blatt, die intensive Beschäftigung mit dem Gegenstand in Geschichten und Abfolgen umzusetzen.

Schon während des Studiums begann Anna Susanne Jahn, die Werke Pierre Bonnards zu schätzen und fand über dessen Liebe zur japanischen Malerei Zugang zu ostasiatischer Tuschmalerei. In einem sechsmonatigen Studium an der Kunstakademie Kyoto konnte sich die Künstlerin später intensiv mit dem Gegenstand ihres Interesses beschäftigen. Die Spuren dieser Auseinandersetzung sind von der Technik bis zu den Formaten der Rollbilder, der Querrolle Emakimono und der Hängerolle Kakemono, in ihrem Werk an vielen Stellen zu sehen. Auch die Tendenz zu monochromen Arbeiten oder zu einem klar begrenzten Farbspektrum dürfte in diesem Kontext stehen. Mit sparsamen Mitteln wird auf das Wesentliche gezielt. Gerade diese Einschränkung öffnet innerhalb der Spannweite zwischen Schwarz und Weiß wie innerhalb des begrenzten Farbspektrums den Weg zu einer feinen und reichen Differenzierung.

Auch der Umzug nach Hamerstorf, in das kleine Nest in der östlichen Lüneburger Heide, hinterließ Spuren im Schaffen der Künstlerin. Die Landschaften wurden zum beherrschenden Motiv. Dabei verstärkten sich zwei Tendenzen, und beide sind Ausdruck vom genauen und ausdauernden Hinsehen. Es ist die Tendenz vom weiten Blick auf die Landschaft zur Fokussierung auf den Ausschnitt. Und es ist, wie schon angeführt, der ausgedehnte Umgang mit einem Thema, der Weg vom einzelnen Blatt zur Serie.

So entstanden die Serien „Wasserbilder“ mit ihren Spiegelungen, die „Wolkenbilder“, die „Früchte des Ovid“ oder die „Gartenblätter Schloss Holdenstedt“, die zu einem extremen Breitformat, zu einem Rollbild asiatischer Tradition, zusammengefügt wurden, was in der Technik der Monotypie spiegelbildlich zu bewerkstelligen ist. Bei einem Studienaufenthalt in Drochtersen im Landkreis Stade lernte Anna Susanne Jahn das Kehdinger Moor kennen. Daraus erwuchsen die „Moorschichtungen“, ein wichtiger Schritt auf dem Weg nach Schöningen.

Die „Hundert Ozeane“ waren ebenso das Ergebnis einer Expedition. Ein internationales Stipendium für Druckgrafik ermöglichte es Anna Susanne Jahn in Kanada, für drei Monate von ihrer Druckpresse im Atelier aus über den Hafen von St. John’s auf den Atlantik zu sehen. Die „Hundert Ozeane“ wären dort allerdings genauso entstanden, wenn das Atelier der Künstlerin einen weniger attraktiven Ausblick geboten hätte, denn ihre Technik ist es nicht, unmittelbar nach der Natur zu skizzieren. Sie schaut sehr genau hin, nimmt auf und setzt dann im Nachhinein um. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass die Darstellungen bei aller Präzision nicht naturalistisch sind, sondern einen unterschiedlichen Grad von Abstraktion aufweisen, die das Motiv zum Wesentlichen verdichtet. Die Wahl des Ausschnitts ist schon der erste Schritt dorthin. Es ist, wie Thomas Döring einmal treffend gesagt hat, das Ergebnis des Zusammenspiels von „Beobachtungsgabe und Erfindungsreichtum“.

In dieser Tradition sind die in Schöningen entstandenen Arbeiten zu sehen. In ihnen finden sich viele Merkmale als Handschrift der Malerin unverkennbar wieder: Darstellungsweise, Technik, Formate, Seriation. Auch einzelne Motive, die in den bisherigen Arbeiten eine Rolle spielten, tauchen als alte Bekannte auf: Libelle und andere Insekten, Lurch, Frosch, Katze und darüber die Wolken. Auch eine aktuelle Meldung, dass in Zypern ein 5.000 Jahre altes Grab entdeckt wurde, in dem der Tote gemeinsam mit einer Katze lag, fand als Ausdruck der innigen Verbindung von Mensch und Tier Eingang in die Große Wand. Das zeigt sehr deutlich, dass es hier nicht etwa um die Dokumentation des Erdprofils, sozusagen um ein Schaubild der tatsächlichen Wand geht. Anna Susanne Jahns Blick ist nicht der des Wissenschaftlers, sondern der Künstlerin. Im Vordergrund stehen künstlerischer Ausdruck und Ästhetik. Natürlich tauchen auch Tierknochen, Pferde, die berühmten Speere in der Schichtung auf. Die Braunkohle wird zum versunkenen Wald. Der Ausgräber erscheint als Maulwurf und als sein Wunschbild liegt zwischen den anderen Funden der Schädel des homo erectus, der bisher hier noch nicht gefunden wurde. Daneben gibt es Dinge, die aus wissenschaftlicher Sicht hier gar nicht her gehören, für die Malerin aber zu ihrem Bild der unvorstellbar langen Abfolge der Erdgeschichte und zur Geschichte des Menschen gehören. Dass sie die hellen, kräftigen Farben des Erdprofils und nicht etwa die dunkle Braunkohle hervorhebt, erklärt Anna Susanne Jahn damit, dass die Geschichte nicht düster sei, sondern aus lauter hellen Gegenwarten bestehe. Vielmehr erscheint uns die Geschichte nur dunkel, weil wir viele Einzelheiten nicht kennen. In die farbige Gegenwart der dunklen Vergangenheit passen durchaus auch die spielerischen Elemente wie die Stempelabdrücke der Gummibärchen, die der aufmerksame Betrachter in der Schichtung entdecken kann.

Anna Susanne Jahn hat der wissenschaftlichen Sicht in nicht minder intensivem Studium ihre kreative und phantasievolle Transformation gegenübergestellt. Kontakte zwischen den beiden Welten hat es offensichtlich nicht gegeben, wovon beide Seiten hätten bereichert werden können. Den Gegensatz veranschaulicht der Weg zum Atelier der Stipendiatin am Burgplatz, der durch die archäologische Ausstellung führt. Die Ausstellung informiert und belehrt über die Arbeitsweise und Ergebnisse der Archäologen, verblüfft aber durch die weitgehende Abwesenheit von Ästhetik.

Das große Erdprofil im Schöninger Tagebau hat Anna Susanne Jahn zum größten Format inspiriert, das sie je geschaffen hat. 10,07 m hoch und 1,43 m breit ist ihre „Große Wand I“ geworden. Wie kann man dieses Bild in ihrer Technik, der Monotypie, überhaupt herstellen? Indem man es aus einzelnen Blättern zusammensetzt. Das Einzelblatt kann nicht breiter sein als 37 cm, denn so breit ist die Zinkplatte, auf der gemalt wird. Und es kann nicht höher sein als 55 cm, denn diese Grenze gibt das Format des handgeschöpften Japanpapiers vor. So besteht die „Große Wand“ aus 4 Einzelblättern in der Breite mal 18 Einzelblättern in der Höhe, die auf eine Leinwand gezogen wurden.

Neu für Anna Susanne Jahn ist, dass sie parallel zu ihrer Arbeit die Natur selber ein Bild schaffen ließ. Zwischen zwei Förderbandstützen spannte sie vor dem Erdprofil ein Baumwolltuch genau in den Maßen ihrer „Großen Wand I“. Die Ränder mussten zuvor verstärkt und mit Ösen versehen werden, damit das Tuch von zwei Stahlseilen gehalten werden konnte. Wie ein überdimensioniertes Raffrollo hing das Tuch am Grubenrand und wurde Stück für Stück, genau nach dem Fortgang der Arbeit an der „Großen Wand I“, heruntergelassen, so dass die Natur auf den untersten Streifen des Tuchs am längsten, auf den obersten nur kurze Zeit einwirken konnte. Der Wind, dessen Kraft die Malerin schon bei ihrem ersten Besuch im Tagebau zu spüren bekommen hatte, sollte Staub und Sandkörner unterschiedlicher Farben auf das Tuch tragen. So war die Planung. Doch die Natur übernahm, was ja gewollt war, die Regie selbst. Das Wetter wurde so regnerisch, dass kaum Staub fliegen konnte. Stattdessen saugte sich das Tuch voll Wasser und hing schwer bis auf die Erdwand durch. Sie selbst konnte ihre Spuren auf dem Tuch hinterlassen. Aus der geplanten Rückwand wurde die Vorderseite des Bildes. Als wirkungsvoller Kontrast zu dem Gemälde „Große Wand I“ entstand das gegenstandslose, in den Farben stillere, doch durchaus lebhafte Bild „Große Wand II“. Die Künstlerin trug die Idee dazu bei und schuf die Voraussetzungen dafür, das Weitere besorgte die Natur.

Dass die St. Vincenz-Kirche die Ausstellung aufgenommen hat, hängt sicherlich nicht nur mit den extremen Formaten der „Großen Wand I und II“ zusammen, die in einem üblichen Ausstellungsraum keinen Platz gefunden hätten. Die künstlerische Sicht auf die Jahrmillionen der Erdgeschichte kann dem gläubigen Menschen auch einen schmalen Spalt breit den Blick auf die Schöpfung freigeben. Vor dem großen Hintergrund werden die Einzelheiten so klein, dass in der Einladung zur Ausstellung empfohlen wurde, ein Fernglas mitzubringen, um die Details zu erkennen. Diese Relation gilt auch für den Menschen, der vor der langen Geschichte in seiner Gegenwart mit all ihren Errungenschaften gar nicht mehr so groß, so großartig und so wichtig erscheint, sondern sich klein und winzig vorkommen muss. Ernstgenommen, kann diese Sicht zu Bescheidenheit und Demut führen. Beides stünde uns gut an. 2004