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Pellkartoffeln und Sirupbrote
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PELLKARTOFFELN UND SIRUPBROTE
 

Von Pellkartoffeln und Sirupbroten

"Wenn ich mir der tatsächlichen Ereignisse nicht mehr sicher sein kann, so kann ich wenigstens getreu wiedergeben, welche Eindrücke sie hinterlassen haben."
Julian Barnes


Kindheit, das sind die Berge und Wälder des Riesengebirges, das ist die Lust, dorthin gehen zu können, wonach der Sinn gerade stand, zum Beispiel mit einem Aluminiumtopf voller Kartoffeln über den Hochstein in Richtung Isergebirge, um in einer kleinen Höhle Pellkartoffeln zu kochen und sie zu verspeisen als das Köstlichste auf der Welt. Kindheit, das sind Eltern, die wenig Zeit hatten als Gastwirtsleute, aber so voller Liebe waren, dass sie dem lieben Jungen (dem verwöhnten Bengel) so gut wie alles durchgehen ließen. Die viel ältere Schwester erreichte mit ihren Erziehungsversuchen eher das Gegenteil dessen, was sie erzielen wollte. Ein Leiterwagen als Spielzeug und ein schwarz-weiß gefleckter Terrier als anhänglicher Begleiter sind Flicken der Erinnerung wie der kleine Schlitten, mit dem man im Winter – der Schnee lag immer hoch– den Kirchberg hinunter und , wenn man die Kurve nicht kriegte und die Kirchentür gerade offenstand, über den roten Kokosteppich bis mitten in die Kirche glitt. Bei einer Beerdigung konnte das der Trauergemeinde und einem selbst schon einen gehörigen Schrecken einjagen. Vom Krieg merkten wir nur, dass von vielen Jungen die Väter fehlten. In der Nähe des Bahnhofs war hinter Stacheldraht und hohen Büschen ein Gefangenenlager. Einmal tauchte zwischen den Büschen ein Russe auf und steckte mir ein kleines, aus Holz geschnitztes und grün bemaltes Flugzeug durch den Zaun. Ein paar Kartoffeln wollte er dafür haben. Ehrensache, dass ich ihm die brachte. Wie viel Hunger er haben musste, kam mir, dem nichts fehlte, nicht in den Sinn. Sonst hätte ich ihm noch viel mehr geholt.

Das Kriegsende erlebte der achtjährige Bengel als aufregendes Abenteuer, wenn er auch merkte, dass es für viele Erwachsenen ein Martyrium war. Die russischen Soldaten waren zu uns Kindern immer freundlich, wir durften auf den Panjepferden reiten und wenn wir im Winter einen von den Männern auf dem Schlitten mitnahmen, zog der uns den Fleischerberg wieder hinauf. Grausamkeiten erreichten mich nur als Erzählung. Ein bisschen Angst bekam ich nur, wenn nachts angetrunkene Soldaten an die Wirtshaustür polterten, um Schnaps zu fordern. So fand ich auch nichts dabei, eines Tages wieder mit dem Aluminiumtopf voller Kartoffeln zu meiner Höhle im Gebirge zu ziehen und bemerkte nicht, dass mir von der Hochsteinbaude, in der Russen einquartiert waren, ein Soldat gefolgt war, der mir dann im Wald seine Kalaschnikow vor die Nase hielt und mich aufforderte, ihn zu meinem Vater zu führen. Meine Eltern hatten dann große Mühe zu erklären, dass ich eine meiner Gebirgstouren gemacht hätte und nicht etwa im Wald verborgene deutsche Soldaten hatte versorgen wollen.

Von einigen Polen schlug selbst uns Kindern Hass entgegen. Ich weiß noch genau, wie mir beim Skilaufen ein Pole begegnete und in strengem Ton befahl, meine kleinen Skier herauszugeben. Ich kann auch nicht vergessen, wie eine Gruppe berittener Polen auf Weicherts Hof, wo wir früher immer unsere Milch geholt hatten, aus Übermut um sich schoss und aus purem Spaß den freundlichen alten Schäferhund neben mir abknallte. Dass mir meine Mutter im Beisein der Polen, die in unserem Haus lebten, nichts zu essen geben durfte und sie das Brot für mich im Aschenkasten des Waschofens deponieren musste, grämte meine Mutter sehr, ich nahm es eher als Versteckspiel. Was den abgrundtiefen Hass, der mich erschreckte, ausgelöst hatte, wusste ich damals nicht oder konnte es doch nur ahnen.

Eines Tages, es war im Mai und die Sonne wärmte schon, zogen wir zusammen mit allen Nachbarn zum Niederbahnhof, so nannten wir den Bahnhof von Niederschreiberhau. Wir hatten Koffer, Kisten und Rucksäcke bei uns, meist auf Leiterwagen gepackt, die am Zug zurückblieben. Wir selbst wurden mit unserer Habe in die Wagen eines Güterzuges gepfercht, der noch lange am Bahnhof stand und sich dann keuchend in Bewegung setzte. Dass es ein Abschied für immer war, kam mir nicht in den Sinn und denen, die mitreisen mussten, auch nicht. Wie lange die Reise dauerte, weiß ich nicht mehr. Mein Vater hatte mir vor der Abfahrt aus einer dunklen Quelle für ein kleines Vermögen eine große braune Tüte voller Karamelbonbons gekauft, von denen ich mir eines nach dem anderen genüsslich in den Mund steckte. Dass mich ein würdiger alter Mann erst streng ermahnen musste, einem kleinen Jungen, der in einem anderen Teil des Güterwagens hockte, ein paar Bonbons abzugeben, hat mich so beschämt, dass es mir bis heute im Sinn geblieben ist. Das Riesengebirge entschwand allmählich aus dem Blick, immer neue Landschaften und Städte zogen vorüber. Auf einer Zwischenstation, so ist mir in Erinnerung, wurden wir am ganzen Körper mit eklig riechendem weißem Pulver besprüht: Entlausung. Die Endstation war ein Lager in Seesen am Harz. Von dort aus wurden wir zügig in einzelne Dörfer der Umgebung verteilt.

Unser Dorf hieß Ahlshausen, im Landkreis Gandersheim zwischen Hannover und Göttingen gelegen. Felder und Wälder, Täler und Berge wechselten ab in einer lieblichen Landschaft zwischen Leine und Harz. Mein Maßstab aber war noch das Riesengebirge, so dass ich nur Hügel sah, die Berge hießen. Die Flüchtlingsfamilien wurden einzelnen Bauern zugewiesen, die sich, was zu verstehen war, nicht gerade freuten über den ungebetenen Zuzug. Entsprechend zurückhaltend, manchmal freundlich, manchmal frostig, war der Empfang. Meine Eltern und ich bekamen ein Zimmer zugewiesen, offensichtlich die ausgeräumte gute Stube, für die mein Vater, der schon immer gut organisieren konnte, nach einiger Zeit drei Betten besorgte, die den größten Teil des Raumes einnahmen. Dazu kamen ein Esstisch mit Stühlen, ein Schrank, ein Regal und ein Herd zum Kochen und Wärmen, und die Ausstattung war vollständig. Wir waren dankbar dafür. Dass meine ältere Schwester, die hochschwanger war, und mit ihrem Mann ein paar Häuser weiter einquartiert wurde, zuerst auch nur ein Bund Stroh bekam, um auf dem Boden zu schlafen, das hat uns wütend gemacht. Es waren keine schlechten Menschen, die uns aufgenommen hatten, aber ihre Phantasie reichte nicht aus, sich die Not vorzustellen, um sie zu lindern. Es ist leicht, auf andere zu zeigen. Wie war das noch gewesen mit dem russischen Gefangenen, dem Holzflugzeug und den Kartoffeln damals in Schreiberhau?

Der große Misthaufen vor der Haustür störte mich nicht. Das Plumpsklo ganz hinten an der Rückseite des Stalls nachts aufzusuchen, hatte ich Angst, seit ich dort die dicke Ratte gesehen hatte. War das der Grund oder gab es andere Gründe, warum ich anfing, die Hose voll zu machen? Ansonsten hatte ich nicht viel auszusetzen an der neuen Umgebung. Auch hier konnte ich mit Freunden oder allein Ausflüge machen, wenn nicht ins Riesen- oder Isergebirge, so doch ins Wambachtal. Auch wenn ich wie viele andere Kinder in den ersten Jahren keine ledernen Schuhe, sondern nur Sandalen aus Holz an den Füßen trug, vermisste ich kaum etwas. Das Essen war bescheiden, aber wirklich gehungert haben wir nie. Die großen Brotscheiben, mit „guter Butter“ und Sirup bestrichen, die wir Kinder fürs Rübenverziehen und Kühehüten bekamen, sind unvergessene Delikatessen. Das Wort Kinderarmut wurde erst viel später für viel reichere Kinder erfunden. Aber die durften dafür nicht mit dem Rad zur Schule fahren, was uns so viel Spaß gemacht hat, sondern wurden ab mit dem Schulbus oder dem Taxi abgeholt oder von Mutti gefahren.

Nicht für uns Kinder, für die Erwachsenen war die Vertreibung aus Schlesien eine Katastrophe. Meine Eltern hatten sich zunächst in Breslau als Wirtsleute eine Existenz aufgebaut und dann in Schreiberhau die Kirchschänke gekauft. Tüchtig geführt, gegenüber der Niederschreiberhauer evangelischen Kirche gelegen, im Sommer wie im Winter von Stammgästen aus Berlin und Breslau gut besucht, erwies sich das Gasthaus bald als Goldgrube. Meine Eltern wurden zu wohlhabenden Leuten, die im Gebirge schon ihr schmuckes Häuschen als Alterssitz erworben hatten. Mit fünfzig Jahren – ich war ein Nachkömmling – aus allen Zusammenhängen ihres bisherigen Lebens gerissen zu werden und vor dem Nichts zu stehen, das war ein Schlag, von dem sie sich nie wieder ganz erholen sollten. Als Gastwirt neu anzufangen, verbot sich meinem Vater schon wegen einer Beinverletzung, die ihm seit dem Ersten Weltkrieg zu schaffen machte. Also belieferte er die Leute aus Ahlshausen und einigen Nachbardörfern mit Medikamente aus der Apotheke in Salzderhelden. Davon konnte man wenigstens leben.

Im vollem Umfang begann ich das erst später zu begreifen und bewunderte meine Eltern um so mehr, meinen Vater als tüchtigen, ehrlichen Geschäftsmann und meine Mutter als liebevolle, fleißige Frau, die so gutmütig war, wie ich es bei keinem anderen Menschen erlebt habe. Schon in Schreiberhau war sie bei allen Tippelbrüdern, wie die Obdachlosen dort hießen, bekannt und beliebt, weil die bei ihr immer rasten und einer guten Mahlzeit gewiss sein konnten. Meiner Erziehung tat diese Großmut nicht immer gut, denn sie ließ mir fast alles durchgehen.

Was denken sich denn jene unserer Politiker dabei, die es uns verwehren wollen, an diese Generation der Vertriebenen ohne Rachegelüste und Revanchismus in einem Zentrum gegen Vertreibungen zu erinnern? Wie viel Geschichtsvergessenheit, Hochnäsigkeit und Ignoranz gegenüber dieser Generation gehört dazu, kritisches Gedenken zu verweigern?

Ich selber habe mich bald als Norddeutscher gefühlt, auch so gedacht und gesprochen. Den Heimattreffen bin ich ferngeblieben, weil ich die Älteren kaum kannte und der Bund der Vertriebenen mir damals zu revanchistisch war. Und doch überkommt mich ein bisschen Wehmut, wenn ich von Schlesien lese oder höre oder wenn an unserem Haus am Elbe-Seitenkanal ein Schiff mit dem Heimathafen Wroclaw durch das Wasser pflügt. Wenn dann der polnische Schiffsführer herüberwinkt, freue ich mich. Zu meiner eigenen Überraschung kam eine große Liebe zu der Landschaft hoch, als ich mit meiner Frau und meiner Schwester nach der Öffnung der Grenzen durch das Riesengebirge wanderte. Unerwartete Erinnerungen tauchten auf, denen meine ältere Schwester manchmal nachhalf. Die Landschaft nahm uns gefangen, die verwahrlosten alten Häuser und die hässlichen neueren Kästen, wie wir sie aus der DDR kannten, bedrückten uns. Mein Geburtshaus war Gott sei Dank unversehrt, aber es gehörte leider zu den Anwesen, die heruntergekommen waren. Um so mehr war ich erleichtert, als ich später erfuhr, dass ein neuer Besitzer pfleglich damit umging. In Besitz nehmen möchte ich es nicht, aber ich wünsche mir, dass die Menschen das Erbe pflegen, die Kulturlandschaft Schlesien bewahren und nicht mehr verschweigen, dass es Deutsche waren, die sie geprägt haben.

Im Westen, in Ahlshausen kam ich in die kleine Dorfschule. In zwei Klassen wurden alle Jahrgänge unterrichtet. Geschadet hat mir das nicht, auch nicht, dass ich wie alle anderen Kinder ab und zu mit dem Stock eins übergezogen bekam. Ich ging gern zur Schule Das Lernen fiel mir leicht, und so kam ich trotz meiner grenzenlosen Faulheit gut zurecht. Zwei Jahre später scheiterte ich allerdings beim Schnupperkurs im Gymnasium, denn ich hatte immer noch keine Beständigkeit und keine Technik des Lernens gefunden und auch niemanden, der mir das hätte beibringen können. Nach zwei weiteren Jahren war ich dann so weit, dass ich die neu gegründete Realschule in Kreiensen mühelos und erfolgreich absolvierte.

Das Dorf lag isoliert zwischen Hügeln. Wohin man auch wollte, man musste über einen Berg. Um nach Kreiensen zu gelangen, meinen zehn Kilometer entfernten neuen Schulort, war das der Oppershauser Berg. Nur in den Wintermonaten benutzten wir Schulkinder den Bus, den größten Teil des Jahres fuhren wir die mit dem Rad. Wir hatten unsere Freude an der Tour, besonders an der Rückfahrt, wenn die Zeit nicht drängte, denn wir waren meist in einer kleinen Gruppe und nur manchmal allein. Die Räder den Berg hinauf zu schieben, wurde uns zwar sauer, aber Entschädigung boten uns die Obstbäume am Straßenrand mit ihren Früchten, die Kirschbäume auf der Oppershauser und die Apfelbäume auf der Ahlshäuser Seite des Berges. Die Kuppe war mit Wald bestanden. Der spendete nicht nur Schatten für eine Rast. Es gab immer etwas zu entdecken wie das Nest des Baumläufers ganz unten im Stamm knapp über dem Waldboden, so dass wir beobachten konnten, wie die Kleinen täglich größer wurden, bis sie schließlich ausgeflogen waren. Uschi hat sogar einmal aus einem Graben, der für eine Leitung ausgehoben worden war, einen kleinen Frischling gerettet. Der wurde zahm wie ein Haustier. Nur als ausgewachsenes Wildschwein riss er schon einmal einen Menschen um, wenn er ihn stürmisch begrüßte. Für den Biologieunterricht hatten wir Motivation nicht nötig.

Eigentlich war es noch gar keine Realschule, die wir besuchten. Es war ein Aufbauzug der Grundschule, von dessen Erfolg nach vier Jahren die Anerkennung als Realschule abhing. Lehrer und Schüler nahmen das als Herausforderung an. Einen besseren Ansporn zum Lernen hätten wir nicht haben können. Wir spürten, wie sich die Lehrer mit uns mühten, und wir ließen uns anstecken. Wir hatten Freude am Lernen. Vieles Nützliche bekamen wir beigebracht, auch Dinge, deren Nützlichkeit uns damals nicht einleuchtete, wie die Gedichte, zu denen wir ohne Friedrich Probst keinen Zugang gefunden hätten. Vielleicht war es noch wichtiger, dass die Lehrer es verstanden, uns neugierig zu machen, neugierig im Sinne von etwas wissen zu wollen und Neuem gegenüber aufgeschlossen zu sein. Das Lernen fiel mir leicht, so dass ich ohne große Anstrengung zu den besten der Klasse gehörte. Ein Musterschüler war ich trotzdem nicht, denn dazu hatte ich stets zu viele Flausen im Kopf.

Außerhalb der Schule bekam ich weniger Anregungen. Das hing wohl damit zusammen, dass ich in einer Familie aufwuchs, die zwar keineswegs ungebildet war, aber eben doch nicht zum Bildungsbürgertum gehörte, so dass mir schon in den Tischgesprächen Kultur und Wissenschaft zuteil geworden wären. Dass ich zu meiner Schwester kein inniges Verhältnis entwickelte, das intensive Gespräche ermöglicht hätte, lag wohl am großen Altersunterschied von vierzehn Jahren. Da lag es nahe, dass die große Schwester den kleinen Bruder erziehen wollte, der darauf aber nur bockig reagierte. Heute hätte ich mir damals mehr Einsicht gewünscht. Da gab es noch den alten Herrn Heese, einen Bekannten meiner Eltern, mit hoher Stirn und langer Mähne schon äußerlich die Erscheinung eines Wissenschaftlers oder Künstlers, der als vormaliger Herausgeber einer kleinen Zeitung einen breiten Fundus an Wissen besaß und ebenso von Gerhard Hauptmann erzählen wie die Pflanzen und Tiere der Umgebung erklären konnte. Den hätte ich mir als Vertrauten gewünscht.

Als die Schulzeit dem Ende zu ging, hatte ich mir immer noch keine Meinung gebildet, was ich danach anfangen wollte. Einerseits galt meine Begeisterung der Natur, aus späterer Sicht war ich ein kleiner Grüner. Andererseits zählten Geschichte und Deutsch zu meinen Lieblingsfächern. Ich konnte mich nicht entscheiden, vor allem traute ich es mir nicht zu, aus meinen Neigungen einen Beruf zu machen. Ein Studium schien mir jenseits des Erreichbaren zu liegen. So kam es mir zu Pass, dass eines Tages in der Schule für den Beruf des Bergmanns geworben wurde. Steiger zu werden, tief in die Erde zu fahren und Steinkohle zu fördern, viel Geld zu verdienen und nebenbei noch versteinerte oder verkohlte Pflanzen der Karbonzeit zu finden, das war doch etwas. Mit einem Klassenkameraden zusammen meldete ich mich kurz entschlossen und fand mich bald danach als Jungbergarbeiter in der Zeche Friedrich der Große im Ruhrgebiet wieder.

Das Industriegebiet unter und über der Erde war eine neue Welt. Aber es war nicht meine Welt. Bald fand ich heraus, dass die speziellen neuen Erfahrungen nicht das aufwogen, was mir andererseits verlorenging. Langsam wuchs mein Selbstbewusstsein so weit, dass ich mir zutraute, das Abitur nachzuholen und anschließend zu studieren, nicht um Wissenschaftler zu werden, das lag auch jetzt noch außerhalb des mir Vorstellbaren, nein, um Lehrer zu werden für Deutsch und Geschichte. Ein Jahr hielt ich durch und fand dann am Südrand von Hamburg Aufnahme im Pfarrhaus meines Schwagers, der nach dem Krieg Pastor geworden war. Das gab mir die Möglichkeit, halbtags in einer Gärtnerei zu arbeiten und abends in einer Hamburger Privatschule das Abitur nachzuholen. Als ich nach zweieinhalb Jahren die Prüfung bestand, stärkte das erneut mein Selbstwertgefühl. Ich begann, in Hamburg Deutsch, Geschichte und Pädagogik zu studieren. Ganz naiv meinte ich, wenn man Geschichtete kennenlernen wollte, dann müsste man zuerst einmal wissen, was davor gewesen sei. Ich belegte also zusätzlich Vor- und Frühgeschichte und – um es abzukürzen – ich blieb dabei hängen, wählte es später als Hauptfach und wurde schließlich darin in Göttingen promoviert. Mit der Hilfe meiner akademischen Lehrer, die meine Leistungen anerkannt und mir Mut gemacht hatten, dieses Ziel zu wählen, wurde aus mir doch noch ein Wissenschaftler.

Daran hatte der alte Professor Willi Wegewitz, der Direktor des Helms-Museums und des Freilichtmuseums am Kiekeberg, keinen geringen Anteil. Er führte uns Studenten in die praktischen Arbeiten des Archäologen ein, das Ausgraben, die Auswertung von Funden und in die Museumsarbeit. Nach einem seiner Seminare fragte er mich: „Warum studieren Sie eigentlich nicht Vor- und Frühgeschichte im Hauptfach“? „Weil ich einen Beruf brauche, in dem ich Geld verdienen kann“, antwortete ich, „da ist es mir zu ungewiss, auf eine der wenigen Archäologenstellen zu hoffen. Ich werde Lehrer“. „Die Besten kriegen schon eine Stelle, und zu denen gehören Sie doch. Denken Sie einmal darüber nach“, gab er mir mit auf den Weg. Das war wieder eine der Ermutigungen, die ich dringend brauchte.

Gerade die praktischen Kenntnisse waren es, die mir später helfen sollten. Sie zu erweitern, ging ich wie vieles andere ganz naiv an. Ich hatte gelesen, dass die schwedische Ausgrabungstechnik besonders fortschrittlich sei. Also schrieb ich einfach an den berühmten schwedischen Professor Eric Nylen und fragte an, ob ich bei ihm ausgraben lernen könnte. „Da kriegst Du nie eine Antwort“, meinten meine Kommilitonen, und ich glaubte das auch. Nylen aber lud mich ein, gegen Kost und Logis bei ihm drei Monate auf Gotland auszugraben. Es war eine wunderbare Zeit auf einem gotländischen Bauernhof. Ich lernte freundliche Menschen, die Archäologie auf Gotland und die Ausgrabungstechnik kennen. Ich meinte, ich hätte auch Schwedisch gelernt, in Wirklichkeit sprach ich wie ein gotländischer Bauer.

Kurz darauf begann das so genannte Siedlungsgeschichtliche Nordseeprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft. In vier Probegrabungen im norddeutschen Flachlandland sollte erkundet werden, welche dieser Siedlungen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte eine großflächige Ausgrabung lohnte. Die Untersuchung des Siedlungsplatzes Böhme an der Aller sollte Dr. Albert Genrich vom Niedersächsischen Landesmuseum Hannover vornehmen, der aber kurz vor Beginn der Arbeiten ernstlich erkrankte. Und da ich bei Eric Nylen ausgraben gelernt hatte, fragte man mich als kleinen Studenten, ob ich die Ausgrabung eigenverantwortlich unter der Aufsicht des Landesarchäologen übernehmen wolle. Da brauchte man nicht zweimal zu fragen. Bald fand ich mich mit einer kleinen Grabungsmannschaft auf einer flachen Erhebung in der Allerniederung wieder. Ich sollte innerhalb von drei Monaten Aussagen machen über die Ausdehnung, die Datierung des Siedlungsplatzes und die Möglichkeiten, über Bodenverfärbungen ehemalige Gebäude nachzuweisen. Der Ausgangspunkt war eine Stelle, an der in den dreißiger Jahren Siedlungsscherben gefunden worden waren. An der Oberfläche waren auf der Dauerweide kaum Beobachtungen zu machen, obwohl wir uns als erstes die Inhalte aller Maulwurfshaufen ansahen. Also begann ich, mehrere Suchschnitte durch die Siedlung graben zu lassen, legte die Flächen im Zentrum am größten, nach außen hin kleiner und, wenn keine Funde mehr auftraten nur noch als kleine Suchflächen an. Vor allem zog ich keine durchgehenden Schnitte, weil ich befürchtete, in drei Monaten nicht fertig zu werden, sondern ließ mit abnehmender Funddichte größer werdende Lücken. Auf diese Weise gelang es mir tatsächlich, die Grenzen der Siedlung festzustellen. Und ich hatte das Glück, anhand der Kartierung von Keramiktypen zeigen zu können, wo der älteste und wo der jüngere Teil der Ansiedlung aus dem ersten bis dritten Jahrhundert n. Chr. gelegen hatte.

Die Ergebnisse dokumentierte ich in einem ausführlichen Bericht. Ein paar Monate später bekam ich eine Einladung nach Göttingen zu einem Gespräch mit Professor Herbert Jankuhn, einem der Großen im Fach, dem Ausgräber von Haithabu und Nestor der Siedlungsarchäologie. Er berichtete mir von einer Tagung der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bonn, auf der die Ergebnisse aller vier Testgrabungen des Nordseeprogramms diskutiert worden waren mit dem Ergebnis, dass meine Grabung, obwohl als einzige nur von einem Studenten geleitet, nach der Planung und der Beantwortung der gestellten Fragen am besten bewertet worden sei. Ich sei der Einzige gewesen, der keine durchgehenden Schnitte gezogen und es auf diese Weise geschafft hätte, an allen Seiten die Siedlungsgrenzen zu erfassen. Jankuhn bot mir an, auch ohne Studienabschluss die Leitung der folgenden Hauptgrabung übertragen zu bekommen und die Auswertung bei ihm als Doktorarbeit einzureichen. Da ich für die Ausgrabungen ein Honorar erhielt, war das für mich die Chance, mein Studium ohne finanzielle Sorgen zu Ende zu bringen. Der Nachteil war eine beträchtliche Verzögerung des Studiums. Mit Zuckerbrot und Peitsche wurden meine Kommilitonen und ich in Göttingen zu Leistungen angespornt. Vor allem aber lebte Jankuhn uns sein Arbeitethos vor. In den Abendstunden oder sonnabends nicht im Seminar angetroffen zu werden, konnte den Zorn des Meisters hervorrufen. Nach einem guten Referat waren wir die besten Nachwuchsforscher, nach einem weniger guten bekamen wir sein Missfallen zu spüren. Und wenn wir mit 28 oder 30 Jahren heirateten, wurden wir vor den fatalen Folgen der Frühehen gewarnt. Geschadet hat es uns nicht. Herbert Jankuhn verdanke ich es auch, dass ich an einem heißen Junitag die mündliche Prüfung ohne jedes Lampenfieber überstand. Nachdem er uns erst einmal eine Flasche Mineralwasser geholt hatte, fragte er mich, welche Note ich haben wollte. Auf meine Antwort, ein cum laude, also ein gut, wäre schon schön, erwiderte er, dann könnte er sich bei der Hitze die Arbeit sparen, diese Note würde er mir auch so geben. Das hatte eine entspannte Atmosphäre der Prüfung mit dem Ergebnis magna cum laude zur Folge. So stelle ich mir einen guten Pädagogen vor.

Als ich viel später einmal mit meinem Geschichtslehrer aus der Realschule über meine, für mich selbst erstaunliche Berufswahl sprach, sagte der zu meiner Verblüffung: „Für mich kommt das gar nicht überraschend. Dein historisches Interesse war immer groß, und einer Deiner besten Aufsätze trug den Titel ‚Wie der Angelhaken erfunden wurde’ “. Mir war das inzwischen entfallen. Und doch ist es etwas anderes, ob jemand als Schüler beginnt, Feuersteingeräte zu sammeln und schon zu Beginn des Studiums die ganze Typologie der Schaber und Spitzen kennt, als wenn er erst während des Studiums sich diesem Fach zuwendet.

Wenn mir aus einer verarmten bürgerlichen, nicht akademischen Familie der Weg von der Dorfschule über die Realschule, das Abendgymnasium und das Studium bis zum nicht gewöhnlichen Beruf des Archäologen gelang, so war das auch eine Spätfolge des Zweiten Weltkriegs. Ohne die brutale Entwurzelung der Familie wäre ich ganz selbstverständlich meinem Vater nachgefolgt als Gastwirt im Riesengebirge.